Kategorie: Gegenwartsbetrachtungen

Hirtensalat

Wir müssen reden. Jetzt. Es ist dringend. Und wichtig. Vieles ist noch ungeklärt auf dem Weg in eine gerechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft. Gestern bei unserem Mittagsspaziergang fragte meine Frau, was ich von einem Hirtensalat zum Lunch hielte? Nun ja, er käme in Frage, sofern sich kein Hirte darin befände. Doch die Gefahr scheint gering, denn auch in Alpenschokolade sind ja keine Alpen drin und in Bauernmilch weder Bauern noch Milch von diesen. Kaum vorstellbar, wenn es Bäuerinnen-Milch gäbe, folgenreiche Wirrnisse wären die unvermeidliche Folge.

Zurück zum Hirtensalat. So richtig korrekt ist das ja nicht, es gibt schließlich auch Hirtinnen. Was wäre, wenn wir ihn wie folgt nennen: Nach Lust und Laune mit Essig, Öl, Salz und Zucker angerichtete saisonal vorkommende vegetarische landwirtschaftliche Erzeugnisse nebst im Rahmen der beruflichen Tätigkeit der Schafe hütenden, scherenden und melkenden Personen hergestellter Produkte. Damit wäre auch das Problem der kulturellen Aneignung gelöst, denn einen Hirtensalat dürfen nur Hirten essen, unsereins muss einen Freiberufler-Salat essen.

Der gebärende Teil unserer Beziehung stimmte dem zu – da war sie wieder, die toxische Männlichkeit, nur dadurch gemildert, dass letztere nicht das letzte Wort hatte. Ob das Zubereiten des Na ihr wisst schon Salats nun Arbeitszeit, Freizeit, Beziehungsarbeit, Partnerarbeit oder eine spezifische Form von Unterdrückung ist, klären wir bei unserem nächsten Mittagsspaziergang.

Queere Diskurse

Intro: Neulich konfrontierte mich aus dem Nichts ein halbjunger Mann entspannt mit seinem Gin-Tonic klingelnd lässig angelehnt an die Hauswand auf unserer Terrasse im Widerschein des gemeinschaftlich genossenen Feuerschalen-Feuers mit den Worten, ich sei ein weißer C#-Mann und damit privilegiert.

C#-Mann

Meiner überraschten Nachfrage bezüglich des Attributs C# lächelte er in sein Mobiltelefon und verlas die von Google übermittelte Definition. Kurz und knapp bedeutet C#, dass man sich mit dem von außen zugeschriebenem Geschlecht identifiziert. Wirst du beispielsweise als Mann wahrgenommen und siehst dich auch selbst so, dann bist du C#. Ich war bass erstaunt ob dieser Zuschreibung, kannte ich doch C# bzw. Db (Bb-Moll) bisher ausschließlich als Tonart. Mit sieben # beziehungsweise fünf b im Schlüssel ist das auch eine sehr sportliche und sehr selten verwendete Tonart.

Ob es denn nicht ausreichen würde, mich schlicht als Mann zu titulieren, sofern notwendig? Nein, das täte es nicht, denn es gäbe viele verschiedene Männer, zum Beispiel Homosexuelle und Transmänner und vieles mehr. Ob denn die Zuschreibung des sexuellen Verlangens beziehungsweise der sexuellen Präferenzen ein wesentliches Merkmal sei, das der Differenzierung dienlich ist? Ja, das sei es, die Zuschreibung definiert mich zum Beispiel einer Mehrheitsgesellschaft zugehörig. Ah ja, meinte ich, ich interessiere mich dafür, was jemand mitbringt und unternimmt, um die Welt ein wenig besser zu machen, denn darum ginge es doch und die sexuelle was auch immer sei doch eher Privatsache und täte im Übrigen doch nichts zur selben.

Privilegien

Doch, das täte es, denn homosexuelle Paare zum Beispiel würden bei der Wohnungsvergabe systematisch benachteiligt. Wirklich?, fragte ich. Das wäre mir neu und wenn es so wäre, dann fände ich das befremdlich. Hier folgten seitens des halbjungen Mannes viele abstrakte Erklärungen über strukturelle Diskriminierung in unserer Gesellschaft, ich erwiderte ein paar konkrete Beispiele aus meinem Leben und Umfeld, das dem in meiner Welt nicht so sei.

Außerdem wäre das Weiße ein weiteres Indiz für meine Privilegiertheit, ich solle mich doch einfach mal umsehen. Ich blickte mich um und besah von der Terrasse aus das Haus, in dem meine Frau und ich zur Miete wohnen, besah die Terrasse mit den Holzmöbeln, die wir günstig erstanden und selber zusammengebaut hatten, erahnte im Holzschuppen unsere knapp 30 Jahre alten Fahrräder und im Carport meinen gebrauchten Benz. Hierauf merkte ich an, dass ich meine Habseligkeiten im Laufe vieler Jahre gekauft habe und pflege und mich daran erfreue, doch Hinweise auf Privilegien würde ich nicht erkennen. Als Freiberufler sind mir gesellschaftlich zuerkannte Privilegien wie Macht und Einfluss eher fremd. Wenn ich denn über solche verfügen würde, dann wären sie das Ergebnis meiner Arbeit, zum Beispiel, zu welchen Uhrzeiten und an welchen Tagen ich in meiner regelmäßigen 50-Stunden-Arbeitswoche arbeite. In meinem Beruf zählt ausschließlich das Ergebnis.

Rassismus

Die Keulen des halbjungen Mannes wurden dicker und jetzt musste der vor dem Krieg aus Afghanistan Geflüchtete herhalten, der in Deutschland keine Chance bekäme, weil er die Sprache nicht könne. Dann soll er sie halt lernen, die Sprache, meinte ich. Unser Wertegerüst in Deutschland ist mit dem Grundgesetz hinreichend beschrieben und die Alltagsbeobachtung der autochthonen Bevölkerung wäre auch hilfreich in dem Sinne „wie machen die das hier so“, um sich schnell zurechtzufinden. Dazu noch eine Ausbildung mit beruflicher Perspektive und dann geht das Hopphopp mit der Integration – nur meine unbedeutende über 30jährige Erfahrung aus der freien Wirtschaft, für die ich arbeite.

Auch hier folgte ein längerer durch das Schlürfen am Gin Tonic unterbrochene Exkurs über strukturellen Rassismus in Deutschland. Meine auszugsweise aus konkreten Erfahrungen gespeisten von 58 in diesem Land gelebten Jahren schienen ihm wenig hilfreich. Und ja, ich habe meine Schwierigkeiten mit archaischen Kulturen jeder Couleur, die Unterdrückung zum Beispiel von Frauen und der Verweigerung von Bildung von Mädchen mit Tradition oder Religion begründen. Auch mag ich Gewalt nicht als Mittel der Durchsetzung von Interessen ebenso wie ich bedingungsloser Loyalität einer Gruppe gegenüber, die zum Beispiel meine Familie oder mein Clan ist, wenig schätze als vertrauensbildende Grundlage eines offenen Miteinanders so wie ich dem Begriff der Ehre außerordentlich kritisch gegenüberstehe, der sich auf das dienstbar reinliche Verhalten vor allem von Mädchen und Frauen in der eigenen Familie stützt und die es wenn nötig mit Blutzoll wiederherzustellen gilt.

Weiß

Mit dem Weiß als Attribut, das bei mir im Sommer auch mal tiefbraun sein kann oder rot – mit der Verwendung von Sonnencreme war ich immer etwas nachlässig – kann ich nur schulterzuckend umgehen mit „ist halt so“. Ich bin mir dessen nicht bewusst, es sein denn, ich bereise ferne Länder und Kontinente, und dort merke ich meinen körperlichen Unterschied zu anderen Menschen insbesondere daran, dass ich meist mindestens einen Kopf größer bin. Ist halt so. Und an die verwunderten etwas zu langen Blicke in meine Richtung gewöhne ich mich stets binnen weniger Tage. Wenn ich an den Sport denke oder den mich konkret betreffenden Fall der Musik und der Musiker:innen, dann hilft mir mein Weiß herzlich wenig. Das sollte ich mal probieren: Weißer C#-Mann am Bass, Jahrgang 1963, sucht Band. Sollte auf diese Anzeige wirklich jemand antworten, dann wäre ich wirklich im falschen Film.

Meine konkrete Erfahrung in Bands war immer: beherrschst du dein Instrument und bringst du genug Können mit, dass sich die Band mit dir wohlfühlt und sorgt dein Beitrag dafür, dass es allen besser geht. Dabei erinnere ich mich an 12-jährige Jungs, an über 80-jährige Männer, überhaupt an eine Menge Frauen und Männer aus allen fünf Kontinenten, mit denen ich in den letzten Jahrzehnten musizieren durfte. Gemeinsam musizieren oder an einem Projekt arbeiten funktioniert zumindest in meiner Welt Null Komma Josef mit privilegierten Zuschreibungen. Oh, unsere Sängerin ist weiß, deshalb darf sie dies und jenes – was für ein Unsinn.

Halo

Ich brachte gesprächsweise den Halo-Effekt ins Spiel. Er beschreibt das Phänomen, faktisch unabhängige oder nur mäßig korrelierende Eigenschaften von Personen fälschlicherweise als zusammenhängend wahrzunehmen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Auch die Reihenfolge der Nennungen im Rahmen einer Personen-Beschreibung beeinflusst das Ziehen von Schlussfolgerungen. Man könnte mich wie folgt beschreiben: Hautfarbe weiß, heterosexuell, langjährig verheiratet, Mercedesfahrer, freiberuflicher Unternehmensberater, spielt in seiner Freizeit gerne Bass, liest Arno Schmidt, hört gerne Bayern 2. Daraus entsteht jetzt ein Bild mit vermeintlich zusammenhängenden Attributen, die in der Summe in den Augen mancher Menschen zwangsweise in einer privilegierten Person münden. Klar, der ist weiß und steht auf Frauen, alles andere folgt daraus. Man könnte mich auch wie folgt beschreiben: Spielt in seiner Freizeit gerne Bass, liest Arno Schmidt, hört gerne Bayern 2, freiberuflicher Unternehmensberater, Mercedesfahrer, langjährig verheiratet, Hautfarbe weiß, heterosexuell. Daraus entsteht ein anderes Bild – allerdings klingt es eher kulturell konnotiert und die am Ende der Aufzählung genannten Attribute wirken eher überflüssig.

Wozu also dient die Zuschreibung C#-Mann? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren und mein Gefühl der als aggressiv und übergriffig empfundenen Zuschreibung war – ich empfand das nahezu körperlich als klebrig – hier geht es um was ganz anders als die Einforderung von Gleichheit und Antidiskriminierung und die Überwindung von Rassismus. Hier geht es um Dominanz, um Unterdrückung, um Schuldzuweisung, es geht um Spaltung und Diskriminierung des gerne in der Szene zitierten alten weißen Mannes.

Rache

Bezüglich der mir im Diskurs zunehmend entgegengebrachten Aggressivität des halbjungen Mannes ob meines Unverständnisses verweise ich auf den Frauentag am 8. März 2022, der vielerorts zum Frauenkampftag umgewidmet wurde unter dem Motto: „Seit froh, dass wir nur Gleichberechtigung wollen und keine Rache!“ Und wer ist der Täter? Ist ja klar, der C#-Mann. In der queeren Community geht es darum, eine Ideologie zu installieren und zu initiieren, die ein klares Täter-Opfer Bild braucht. Der Täter ist der C#-Mann, die Opfer sind alle anderen, also die dritte Welt, Frauen, Homosexuelle und überhaupt alle, die kein C#-Mann sind. Hier könnte man an der Grenze der Süffisanz fragen, wer denn bloß all diese bösen C#-Männer erzieht. Doch soweit lassen wir es nicht kommen, wenden wir uns dem Muster von Ideologien zu.

Ideologien brauchen immer einen Feind. Dieser Feind ist von Grund auf Böse. Im Zusammenhang mit dem Halo-Effekt ist der C#-Mann mit Teufelshörnern bewehrt, alle anderen Menschen umschwebt ein Heiligenschein. So ist das auch in der katholischen Kirche: Bück Dich unter unser Diktat oder Dich holt der Teufel. Ich setze hier für mich einen ersten Punkt. Zuschreibungen sind immer diskriminierend, gleich aus welcher Ecke sie kommen und ich verbitte mir Zuschreibungen gleich welcher Art, das dürfen nur meine Söhne und meine Frau. Für alle anderen Menschen gilt: Begegne mir mit Respekt, ich halte es genauso. Weiterhin gilt: die sexuelle Orientierung als ein zentrales Argument für Zuschreibungen zu verwenden, senkt das Niveau der Unterhaltung enorm, so tief kann und will ich mich nicht bücken.

Wissenschaft

Blicken wir auf die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse in Beziehung zur sexuellen Orientierung. Auf der Grundlage der Untersuchung des Erbguts von einer halben Million Menschen in den späten 10Jahren des 21. Jahrhunderts ging man der Frage nach, inwieweit Homosexualität genetisch bedingt ist. Diese Studie wurde von der queeren Community finanziert, deren Hypothese und Hoffnung war, es gibt ein Schwulen-Gen. Salopp gesagt: ich bin schwul, ich kann nicht anders. Damit wurde die Hoffnung verknüpft, im gesellschaftlichen Diskurs besser zu punkten und Wissenschaft lieben wir ja alle. Allein die Hoffnung zerschlug sich mit der Veröffentlichung des Berichts. So sehr man auch suchte, man fand es nicht, das Schwulen-Gen. Der Kernsatz der Studie: Die Gene haben zwar Einfluss auf das sexuelle Verhalten, die Umgebung ist wichtiger. Wobei die erste Satzhälfte bereits ein Zugeständnis an die Auftraggebenden war, denn das Untersuchungsziel wurde klar verfehlt. Es gibt es nicht, das Schwulen-Gen.

Mir persönlich ist es Hupe, was und mit dem die Menschen es wie treiben. Ich empfinde Fremdscham, wenn meine Geschlechtsgenossen nackt auf dem Christopher-Street-Day rumhopsen und das als gerechtfertigten Ausdruck ihrer ausdifferenzierten Persönlichkeit empfinden. Nein, das ist es nicht. Unsere Aufgabe – gerne in Bezugnahme des Wortes vornehm – ist es doch, unsere Triebe zu kultivieren. Meinen Aggressionstrieb, diese jedem Menschen innewohnende Urkraft verwende ich darauf, richtig gute Arbeit abzuliefern und jeden Tag ein wenig besser im Bass-spielen zu werden. Man hätte dem halbjungen Mann seine übergriffigen Attacken auch verbal so richtig hart spiegeln können, so dass er mit feuerroten Backen und tief beschämt ob der Verletzung seiner Pflichten als Gast eine bleibende Erinnerung an den Abend behält. Nein, das habe ich nicht gemacht und mich gezügelt, einfach weil ich meine Kultiviertheit höherstelle als den Sieg in niederen Gefilden. Mir liegt weder das Triumphgeheul noch die Siegerpose.

Ehe für alle

Die Pose des Siegers gönnte ich dem halbjungen Mann, dessen Aufmerksamkeit sich zunehmend darauf verlagerte, wie er denn rüberkäme und ob man auch bemerke, wie schön er lachen könne und ob es auch wirklich gefiele, wie anmutig er sitzend mit seinem Bein wippen könne. Das lag vermutlich am Alkohol, dem man freimütig zusprach. So ließ er sich fortreißen im Rausch des Siegers und genoss seine Überlegenheit im Angesicht meiner zunehmenden Bemühungen um Beendigung des Gesprächs um des Friedens willen, wir waren ja wie eingangs erwähnt eine kleine Gesellschaft. Zumindest vergönnte er mir die Rolle des noch nicht wissenden Unterlegenen und fuhr mit seiner Aufklärungsarbeit fort. Er rollte das Geschütz der Ehe für alle auf das Spielfeld, das zumindest wäre ja ein großer Sieg für mehr Gleichheit.

Ich heiratete vor über 30 Jahren kirchlich und weltlich mit dem in guten-und-schlechten-Tagen-Versprechen und dem im Artikel 6, 1 Grundgesetz niedergelegten besonderen Schutz der Ehe und Familie, der Bezug nimmt auf den Satz, die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Für mich darf jede und jeder seine Beziehung und deren Verbindung unter gleich welchem Stern feiern, gerne auch mit der Ehe für alle. Doch diese Ehe für alle ist eben nicht die gleiche Ehe, unter deren Stern ich geheiratet habe. Mein Eheversprechen besteht aus Rechten, Pflichten und aus Privilegien, die mir aus dem Gründen einer Familie erwachsen. Ich vergleiche die Ehe für alle gerne mit einer veganen Wurst. Die vegane Wurst sieht wie eine Wurst aus, riecht und schmeckt allerdings nicht nach Wurst aus Tier. Meinethalben darf jeder Mensch vegane Wurst essen – überflüssig zu erwähnen, dass der halbjunge Mann zumindest Vegetarier ist und sich reichlich an der von uns gereichten Kost labte – suum cuique, jedem das Seine und wir trafen in dem Wissen und die vegetarischen Vorlieben der kleinen Gesellschaft umsichtige Vorsorge. Wir wollen, dass sich unsere Gäste wohlfühlen.

Die Ehe für alle sähe ich gerne fortgesetzt in einem schwulen und lesbischen Idealstaat, auf zwei Inseln beheimatet und für 100 Jahre wäre die schwule und die lesbische Community ohne Außenkontakte vollständig unter sich und nach 100 Jahren besegeln wir die Inseln und bestaunen die Früchte der dortigen Entwicklung. So einfach ist das mit der Ehe und der Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Ich denke, unsere Gesellschaft braucht jede und jeden in ihrer und seiner Individualität und Vielfalt in dem Bewusstsein, dass ungleiches nicht gleich ist und nicht gleich sein muss – was wir brauchen, ist eine diskriminierungsfreie offene Gesellschaft, in der es auf die Talente ankommt und auf den Beitrag jedes Menschen, die Welt ein wenig besser zu machen.

Bedingungsloses Grundeinkommen

Der Abend neigte sich dem Ende zu und meine Empathie forte Kapseln ebenfalls und so kommen wir langsam zum Schluss. Im Rahmen des zunehmend kreisförmigen Diskurses wurde noch das bedingungslose Grundeinkommen auf das Karussell geworfen verbunden mit sehnsüchtigen Hoffnungen, was man alles unternehmen könnte, wenn es für alle 1.000 € einfach so im Monat gäbe. Dann könnte man endlich die Sinn-Gesellschaft formen, nach der es die Menschheit dürstet. Mal abgesehen von der Finanzierungsfrage, hier wird ja immer etwas einfältig die brutalstmögliche Schröpfung der Reichen gefordert und der Konsequenz, dass dies der endgültige Sieg des Neoliberalismus bedeute, einfach weil er dann nahezu komplett auf Lohnzahlungen verzichten könnte – Privatisierung der Gewinne, Vergemeinschaftung der Kosten – verhallte auch mein Hinweis, wir lebten bereits in der freiesten und offensten Gesellschaft aller Zeiten, in der jede und jeder wirklich alles machen und werden kann und man könne ja auch morgens etwas früher aufstehen oder abends länger werken oder die Wochenenden nutzen oder seine Arbeitszeit reduzieren um sein Ding voranzutreiben und man könne auch eine sensationell gemeinwohlorientierte Firma gründen mit fairen Löhnen und nachhaltigem Geschäftsmodell und begehrenswerten Produkten – nein, also, das alles wäre keine Lösung, man würde schon auf den 1.000 Euro pro Monat bestehen. Mir fällt dann immer Tom Peters ein mit seinem Satz: Ein  Spruch, den Sie vermutlich nicht auf Ihrem Grabstein stehen haben wollen. „Hier ruht xy. Er hätte wohl einige coole Dinge getan, wenn ihn sein Chef gelassen hätte.“

Rechtschaffen erschöpft von so viel gutgemeinter Aufklärung begab sich der halbjunge Mann nun zu Bette, das von meiner Frau frisch hergerichtet seiner harrte und während er im Bad zähneputzend vor sich hinsang, den Klodeckel und die Badezimmertür freimütig offen stehen ließ und hinaufstieg Richtung Heia räumten meine Frau und ich den üppig abgegessenen Tisch ab, sortierten die unzähligen Flaschen in die Träger, warfen unsere Geschirrspülmaschine an, fegten noch kurz den mit Essensresten verkleckerten Boden sauber, richteten das Nötigste für den kommenden Morgen her und fanden schließlich über im Wohnzimmer herumlümmelnde Klamotten und halbgeöffnete Laptops mit durch den Raum gezogenen Kabeln den Weg in unser Ehebett.

Queer

Dortselbst zur Ruhe kommend sortierte ich mich durch. Eine queere Community, die mich als weißen C#-Mann outet und mich davon ausgehend mit dem Attribut behängt, privilegiert zu sein. Sie hat sich die Ehe für alle erkämpft, und ich darf froh sein, dass sie nicht Rache nehmen. Das bedingungslose Grundeinkommen würde endlich die Sinn-Gesellschaft ermöglichen, dafür müssen die Reichen zahlen und dann bekäme jeder Mensch diskriminierungsfrei, was er sich erträumt. Menschen wie ich erkennen ihre Schuld im Sein und dankbar ergreifen wir die Chance, Teil der queeren Bewegung zu werden und in deren Obhut jenseits unseres Erfahrungshorizontes Unerhörtes zu denken und zu fühlen und dadurch befreit zu werden vom Joch des unaufgeklärten Seins.

Bei diesen Gedanken überfällt mich die Angst. Ich lebte 10 Jahre meines Lebens mitten unter ihnen, im Südwesten Leipzigs, unter queeren Menschen mit veganen Lokalen und Weltrettungs-Gemüseläden mit Seawatch-Plakaten und Gebrauchtbuchläden und all dem – mehr dazu findest du in meinem Buch Zur Sonne, Zur Freiheit – nur das Sehnsuchtspotenzial, Teil dieser Bewegung zu sein, hat dieser Lifestyle nie bei mir geweckt, übrigens wie bei der Mehrheitsgesellschaft auch nicht. Diese kleine Minderheit braucht uns, wir brauchen sie nicht. Doch wir tolerieren sie, diese kleine Minderheit. Allein deren selbsterhöhte normativ-moralinsaure Haltung ist zum Erbrechen schlecht durchdacht und vorgetragen. Diese queere Ideologie lebt von Diskriminierung, sie lebt von Feindbildern, sie lebt von Ausgrenzung. Das ist jetzt der C#-Mann, und damit kann ich leben, ist halt so.

Die Triebhaftigkeit des Menschen entlang seiner geschlechtlichen Begehrlichkeiten als dominantes Merkmal seiner Daseinsausformung zu setzen, lehne ich ab. Das ist mir zu primitiv. Jede Ideologie, die ihre Jünger:innen zu Opfern stilisiert, ist ein Irrtum. Jede Ideologie, die ein Feindbild braucht, ist ein Irrtum. Nur am Rande: Jede Ideologie ist ein Irrtum. Und schließlich: den Gastgeber auf Grund ideologischer Begründungen zu diskreditieren, zeugt von schlechtem Benehmen. Meine persönliche Vermutung ist ja, diese verqueeren Vorstellungen von einem guten Leben sind ein Phänomen des Pop, es geht um Aufmerksamkeit. Schaut her, ich bin ganz was Besonderes, ich bin ökosexuell. Das gibt es wirklich! Soll ich mir dabei genussvoll einvernehmlichen Sex mit einer Weidenrute vorstellen? Keine Ahnung – und wenn ich eine hätte, dann würde ich darüber genießerisch schweigen.

Vielfalt

So viel Spaß muss sein, der Sachstand 16. März 2022: Die queere Ideologie zählt mit Stand heute 72 Geschlechter. Sagenhafte 3% der Deutschen zählen sich nicht zu Mann und Frau, sie zählen sich zu: androgyner Mensch, androgyn, bigender, weiblich, Frau zu Mann (FzM), gender variabel, genderqueer, intersexuell (auch inter*), männlich, Mann zu Frau (MzF), weder noch, geschlechtslos, nicht-binär, weitere, Pangender, Pangeschlecht, trans, transweiblich, transmännlich, Transmann, Transmensch, Transfrau, trans*, trans*weiblich, trans*männlich, Trans*Mann, Trans*Mensch, Trans*Frau, transfeminin, Transgender, transgender weiblich, transgender männlich, Transgender Mann, Transgender Mensch, Transgender Frau, transmaskulin, transsexuell, weiblich-transsexuell, männlich-transsexuell, transsexueller Mann, transsexuelle Person, transsexuelle Frau, Inter*, Inter*weiblich, Inter*männlich, Inter*Mann, Inter*Frau, Inter*Mensch, intergender, intergeschlechtlich, zweigeschlechtlich, Zwitter, Hermaphrodit, Two Spirit drittes Geschlecht (indianische Bezeichnung für zwei in einem Körper vereinte Seelen), Viertes Geschlecht, XY-Frau, Butch (maskuliner Typ in einer lesbischen Beziehung), Femme (femininer Typ in einer lesbischen Beziehung), Drag, Transvestit, Cross-Gender.

Oh mein Gott, wie vielfältig ist das denn! Innerhalb der queeren Ideologie kommt es zu immer weiteren Ausdifferenzierungen. Ich freue mich schon auf neue Entdeckungen, über die wir alle dringend reden müssen. Die bisherige Erfahrung in der Menschheitsgeschichte zeigt: Jede Ideologie, die sich immer weiter durchdifferenziert, trennt und spaltet, ist ein Irrtum, sie zerlegt sich selbst. Nur Haltungen, die verbinden, schaffen etwas großes Gemeinsames, zum Beispiel Frieden schaffen ohne Waffen. Das zumindest ist ein schöner Menschheitstraum. Und dabei geht es nicht darum, wonach oder nach wem es mich gelüstet, es geht nicht darum, was ich begehre oder wie ich mich fühle oder wer schuld zu sein hat an meinem persönlichen Unvermögen, all das ist Privatsache. Die einzige Frage, die sich jeder von uns beantworten muss: Was ist mein Beitrag, dass es der Welt besser geht? Nur hieraus entsteht die Rechtfertigung für unser Sein.

Erwartungsfroh blicke ich dem Tag entgegen, an dem der halbjunge Mann seine erste Steuererklärung in Händen hält und der nicht selten erlebten spontanen Mutation hin zu einer konservativeren Gemütsverfassung teilhaftig wird und schließe meine Zeilen in tiefer Dankbarkeit für den lehrreichen Abend verbunden mit dem mir stets bewussten und hart erarbeiteten Privileg, mit meiner Zeit anfangen zu dürfen was immer mir beliebt, zum Beispiel diesen Text zu verfassen und im Anschluss daran für meine Auftraggeber weiterzuarbeiten.

Outro: Kommenden Begegnungen mit queerem Gedankengut stehe ich eher reserviert gegenüber. Gleichwohl freue ich mich immer über Gäste in unserem offenen Haus, mit denen wir trefflich speisen können, den hiesigen Wein genießen, über Musik, Literatur und Philosophie sprechen können – auch ein gepflegter Ratsch und saftige Scherze sind mir stets willkommen – und einfach eine von gegenseitigem Respekt und Freude an der Gemeinschaft getragene gute Zeit verbringen können.