Von Privilegien und Menschen

Immer wenn ich das Wort „Menschen“ höre, wird mir etwas mulmig. Mit dem Wort Menschen schwingen in mir die Menschenrechte mit und die Menschenwürde – die unantastbare, die Menschlichkeit und besonders gruselig – die Mitmenschlichkeit. Die Mitmenschlichkeit, was auch immer das sein soll, lieben ja insbesondere die Kirchen. Die anderen Worte rund um den Wortstamm Mensch werden sehr gerne von Menschenrechts-Organisationen verwendet. Immer dann, wenn es etwas anzuprangern gilt, kommt irgend so ein Wort mit Mensch daher. Alle Wortschöpfungen rund um den Menschen bezeichnen eine Gefahr, ein Fehlen, ein Defizit und darauf weisen diese Worte hin. Deshalb wird mir immer bei „Menschen“ mulmig, denn dann stimmt ganz grob was nicht.

Die Hölle existiert

Der Mensch ist in seiner Gesamtheit ein außerordentlich schutzbedürftiges Wesen und seine menschengemachte Welt wird ihm oft – zumindest den widerborstigen Exemplaren – zur Hölle auf Erden. Homo homini lupus – der Mensch ist des Menschen Wolf. Politische Gefangene und nicht selten deren Familien leiden Höllenqualen in den Folterkellern der Diktaturen, die verabscheuungswürdige Kinderarbeit und die Ausbeutung von Frauen und Männern in Fabriken und auf Plantagen ist eine real existierende Sauerei ebenso wie durch Kriege der Heimat beraubte Flüchtlinge, die auf ihren Wegen hin zu den vermeintlich rettenden Gestaden elend verdursten, ersaufen oder in der Sklaverei enden. Dieses Elend ist durch und durch menschengemacht, es ist menschlich und das gibt es millionenfach. Dieses Elend ist seit Anbeginn der Menschheit geübte Praxis. Deshalb wird mir immer bei „Menschen“ mulmig, denn dann stimmt ganz grob was nicht.

Dieses real existierende menschliche Leiden und Elend resultiert aus dem Mangel an Rechten. Menschen haben keine Rechte und Menschenrechte – so wohltönend fanfarig sie auch daherschreiten und egal wie viel Ornat und Lametta an ihnen baumelt. Sie nützen den Betroffenen einen Scheiß, wenn es darauf ankommt. Eine der großartigsten Erfindungen der Menschheit war die Erfindung der Bürger*in. Denn so wurde aus dem Mensch ein Bürger und dieser wird definiert durch Rechte und Pflichten in einem Rechtssystem. Nicht der Mensch steht oben und schaltet und waltet nach Gutdünken. Nein, das Recht steht oben über allem und darunter sind alle gleich. Das Recht schützt, das Recht bestimmt, das Recht entscheidet, das Recht straft. Eine Bürger*in ohne Rechte gibt es nicht, Menschen ohne Rechte schon. Deshalb wird mir immer bei „Menschen“ mulmig, denn dann stimmt ganz grob was nicht.

Ein guter Freund von mir – ein Gefängnisdirektor im Ruhestand und damals für die harten Jungs zuständig – kann sehr eindrücklich schildern, wie in einem geschlossenen System aus Bürgern Menschen werden und welche Regeln es zu beachten gilt, damit alles halbwegs friedlich bleibt im Knast. Strafgefangene haben nur eingeschränkte Bürgerrechte. Sie dürfen zum Beispiel nicht so einfach raus an die frische Luft, wenn ihnen danach ist, sie dürfen sich nicht ihre Zelle aussuchen und ihre Zelle kann jederzeit betreten und durchsucht werden. Auch die Klamottenfrage ist im Knast geklärt und der Speisenplan und die Aufsteh- und Essenszeiten. Wie also macht man sich Menschen gefügig oder besser gesagt – zu Diensten – wenn sie keine Rechte haben? Man versorgt sie mit Privilegien. Wer brav ist, wer kooperiert, wer ab und an nützliche Hinweise gibt, wer sich nicht kloppt, bekommt zum Nachtisch Apfelkompott. Wer sich gut führt, darf früher wieder raus aus dem Knast. Was Strafgefangene rettet ist ihr Wohlverhalten. Wohlverhalten wird belohnt, garstiges Verhalten – sich und andere schädigen – wird bestraft. Zugemessenes Wohlverhalten ist Ermessenssache, im Klartext: aus Wohlverhalten resultiert kein Rechtsanspruch. Deshalb wird mir immer bei „Privilegien“ mulmig, denn dann stimmt ganz grob was nicht.

Der Sound des Zeitgeistes

Nun denn, dann halten wir unser Ohr mal an den Zeitgeist und hören zu, welcher Textur man sich bedient im Lande. Beginnen wir mit Katrin Göring-Eckardt, sie bekommt im November 2015 Menschen geschenkt (was für ein gruseliges Menschenbild ist das denn bitte) und fahren wir fort mit einer kleinen Google-Recherche dann merken wir schnell, dass unsere Politiker*innen in den letzten Jahren immer weniger von Bürgern reden sondern von Menschen (insbesondere in europäischen Zusammenhängen). Auf der Website von Angela Merkel findet sich der schöne Satz „Eine starke Wirtschaft ist Voraussetzung dafür, dass die Menschen gut und sicher in unserem Land leben.“ Das ist ein schöner Satz, wirklich, doch man hätte das auch anders formulieren können. Anders gefragt: Sind diese und andere Formulierungen Zufall oder einfach unbedacht oder scheint hier eine Haltung durch? Mir zumindest wird es bei „Menschen“ immer etwas mulmig, denn dann stimmt ganz grob was nicht.

Kommen wir zum Refrain, den Privilegien. Corona legt hier wunderschön ein Denken frei, das sich trefflich zum Sinnieren eignet. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn lehnt Sonderrechte (Privilegien) für gegen das Coronavirus geimpfte Bürger ab. Dieser Gerechtigkeitsimpetus ist voll löblich. Doch sorry, Jens, hier geht es nicht um Privilegien, es geht um Bürgerrechte und wenn es nur die Bewegungsfreiheit ist. Friedrich Merz fordert, bereits Geimpften ihre Grundrechte zurückzugeben. Damit ist er einen Schritt weiter, doch im Nebensatz glimmen die Freiheitsrechte auf, die man einräumen könne. Hallo Friedrich, Du nix einräumen Freiheitsrechte, ich will meine Bürgerrechte und meine Freiheit zurück. Besonders schön an dem Wort Freiheit ist ja, dass es kleiner wird, wenn man es vermehrt. Freiheiten sind ganz was anderes als Freiheit. Mir zumindest wird es bei „Privilegien“ immer etwas mulmig, denn dann stimmt ganz grob was nicht.

Wozu taugt unsere Demokratie?

Qui bono – wem nützt es? Das muss stets die erste Frage sein. Nehmen wir die Bürger, die Menschen, die Rechte und die Privilegien und beziehen wir all das auf die letzten neun Monate seit dem März 2020, dem Beginn der staatlichen Eingriffe zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Dazu nehmen wir unsere Demokratie und die Ministerpräsidentenkonferenz und huch, schnell merken wir, wir werden seit Corona durch ein nicht demokratisch legitimiertes Gremium regiert. Das müsse jetzt so sein, denn Demokratie wäre in diesem Falle zu langsam. An der Stelle plagt mich mein gutes Gedächtnis und rückt mir den Kosovo-Krieg 1999 in den Blick. Damals zog Deutschland auf der Grundlage des Beschlusses des Deutschen Bundestages (incl. der Grünen – die ich aus diesem Grund nie wieder wählen werde) in den Krieg, den ersten seit Ende des zweiten Weltkrieges, das nur am Rande. Für den Kriegseinsatz taugt die Demokratie, für die Pandemie nicht? Mir zumindest scheint, da stimmt ganz grob was nicht.

Als gelernter Betriebswirt weiß ich so viel: Ein System beweist sich erst in der Herausforderung, in der Grenzlast. Eine Bahn, die nur bei Rückenwind und Sonnenschein fährt, braucht kein Mensch. Wenn wir gerade irgendetwas beweisen, dann dies: wir brauchen keine Demokratie. Da sind Sie jetzt geschockt, oder? Wir hocken wie die Frösche im Wasser und merken nicht, wie sich das Wasser langsam erhitzt. Wissen Sie, was mit diesen Fröschen passiert? Ihr Eiweiß zersetzt sich und sie verkochen. In den letzten Monaten wurde uns scheibchenweise hier ein Recht und dort ein Recht genommen, demokratische Spielregeln werden zunehmend missachtet. Wir werden tütelich als Menschen angesprochen und wenn wir lieb sind, dann bekommen wir Leckerlie – also Privilegien. Mir zumindest übelt hier, denn da stimmt ganz grob was nicht.

Impfen ist Teil des Deals

Ich bin wirklich gerne Bürger in meinem schönen Land, ich erfreue mich meiner Bürgerrechte und bin mir meiner Bürgerpflichten bewusst. Selbstverständlich bin ich gegen Pocken, Kinderlähmung, Mumps, Masern und auch gegen die Grippe geimpft und natürlich habe ich einen Impfpass, in dem all das dokumentiert ist. Ich halte die Impfung gegen Covid-19 für Bürgerpflicht, denn damit schütze ich mich und andere, das ist vollständig ideologiefrei gedacht und sehr sehr einfach. Somit trage ich meinen Teil zum Deal bei und bitte, liebe uns Regierende, tragt auch ihr euren Teil zum Deal bei. Verschont mich mit eurem Menschengetue und eurem Privilegiengequatsche. Gebt mir einfach meine Bürgerrechte wieder zurück.

Stefan Theßenvitz

Wiesentheid, 1. Januar 2021