In den späten 1980 Jahren hatte ich das Glück, im Rahmen meines Studiums der Betriebswirtschaft ein Seminar besuchen zu dürfen bei Prof. Dr. Volker Stahlmann: Umweltorientierte Unternehmensführung. Unser kleiner Kreis behandelte so exotische – damals weltfremde – Themen wie Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschonung und wir gingen der Frage nach, welchen Wert man einem Singvogel zumessen könne.
Wir waren die letzte Generation an der Hochschule, die die Betriebswirtschaft als eine Sozialwissenschaft beigebracht bekam. Damals kochte in Deutschland der heiße Scheiß des Neoliberalismus hoch mit der absurd dämlichen Trickle-down-Ökonomie und die wirklich coolen Socken mit den Ray-Ban Sonnenbrillen und ihren gesponsorten Alfa Romeos und BMWs stürzten sich auf Finanzierung, auf Controlling und Lean-Management. Meinereiner fuhr Rad, spielte Frisbee im Park und ging gerne in den Bärleinhuter. Mehr sage ich jetzt nicht. Wer damals dabei war, weiß was ich meine und alle anderen mit der Gnade der späteren Geburt verstehen das vermutlich nie.
Wie entstehen Werte?
So, genug Stories vom Krieg und zurück zur Umweltorientierten Unternehmensführung. Darin ging es auch um die Frage, wie volkswirtschaftlich betrachtet Werte entstehen und Prof. Stahlmann brachte es drastisch plastisch auf den Punkt. Ein Auto rammelt so richtig in die Leitplanke, es sind Verletzungen der Fahrerin und des Beifahrers zu beklagen, das Auto ist hinüber, die Leitplanke auch. Es kommen mit Lalülala die Polizei, die Feuerwehr, der Krankenwagen, der Abschleppwagen und es beginnt das große Aufräumen. Die Insassen ab ins Krankenhaus, der Wagen in die Schrottpresse, die Leitplanke wird ersetzt, und nach der Reha der beiden Autopiloten stellt sich wieder Gesundheit und Normalität ein.
Dieser Unfall produzierte volkswirtschaftlich betrachtet Wohlstand. Die Ärztinnen und Pfleger hatten gut zu tun, ebenso der Rettungsdienst, die Polizei, die Feuerwehr, die Straßenmeisterei und der Mann an der Schrottpresse und am Ende kaufen sich die beiden ein neues Auto und alles ist wieder gut. In der Summe ging dieser Unfall als Teil des Bruttoinlandsprodukts in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein. Deutschland war wieder ein bisschen reicher. Ich dachte mir so beim dritten Bier im Bärleinhuter, wenn wir jetzt alles kaputtmachen und dann wieder neu, dann müssten wir alle unermesslich reich werden.
Die Leerlaufökonomie
Natürlich ist das Schmarrn und das weiß auch jeder, doch genauso tickt die klassische Ökonomie. Und sie tickt immer noch so und mittlerweile ist das System noch viel perfekter geworden. Versuchen Sie doch einfach mal, ihr Radio zu reparieren oder ihr Smartphone oder ihr Auto oder Ihren Kühlschrank oder ihre Computertastatur oder Ihre Bluetooth-Box und Sie erleben eine steile Lernkurve. Es klappt nicht, das selber reparieren. Am einfachsten ist der Neukauf und weg mit dem alten Zeug. Kostet halt, aber in der Summe werden wir alle reicher.
Tja, auch ich falle immer wieder darauf rein, zum Beispiel gerade jetzt, mitten im Winter 2021 mit Corona überall. Eigentlich ist es ganz einfach, ich will einen Arbeitstisch mit Holzplatte und Stahlfüßen drunter, also drei Teile mit ein paar Schrauben. Solide Lowtech ohne Höhenverstellung und Soft-Touch-Schubladen, einfach einen Tisch. Ich bestelle den Tisch online, wie auch sonst, und der Tisch ist wirklich teuer und in Deutschland gefertigt.
Der Tisch wird geliefert, der Aufbau geht flott von der Hand und mit großer Vorfreude auf den nächsten Tag – den ersten Arbeitstag am neuen Tisch – gehe ich heiteren Gemütes zu Bett. Am nächsten Morgen mit Kaffee in der Hand an den Tisch und mit Hand darüber spüre und sehe ich einen üblen Riss an der Tischkante, der sich im Laufe des Tages zügig vorarbeitet. Erste Überlegungen führen zu dem Gedanken, den Tisch mittels Spanngurt und Holzleim wieder in Form zu bringen. Dummerweise wandert der Riss immer weiter und die Tischfläche beginnt sich links vom Riss in Richtung Tischkante anzuheben. Diese Reparatur bekommen wir – meine Frau und ich – nicht hin.
Wir bitten den Hersteller um eine Lösung. Die Antwort erfolgt zackig vorgestanzt, es handele sich um ein Naturprodukt, Veränderungen des Tisches seien im Zeitablauf normal und damit müsse man leben. Ich untersuche den Tisch genauer und bemerke an der Tischunterseite mit Schrauben fixierte Stahlleisten – und genau an einer (mit Gewalt und schief eingedrehten) Schraube löste sich durch den Riss die Verspannung der Tischplatte. Es war also schlicht Achtlosigkeit in der Montage, die zu der Rissbildung nach dem Aufbau führte.
Nach einigem Hin und Her bot der Hersteller einen Austausch der Tischplatte an. Das Für und Wider abwägend (Sauarbeit incl. E-Mail-Geschreibe und Geschleppe versus täglich ärgerlicher Anblick) entscheiden wir uns für den Austausch. Nach vielen Fotos und E-Mails kommt die neue Tischplatte – ohne Füße, denn dies sei ja eine Austauschplatte. Leider weiß die Spedition nichts vom dem Austausch und so zieht die Spedition leer ab und die neue Tischplatte in unser Heim. Wir werkeln die alte Tischplatte ab und ohje – die Schraubungen der Füße und die Schrauben des alten Tisches passen nicht zu den Gewinden der neuen Tischplatte.
Nach unserer E-Mail an den Hersteller ließen wir uns erstmal ordentlich beschimpfen, wir hätten nicht vereinbarungsgemäß gehandelt. Jetzt besiedeln zwei Tischplatten unser Heim und ein paar Füße und wir sind dankbar, unserer Volkswirtschaft so tatkräftig geholfen zu haben. Wenn jetzt doch eine Corona-induzierte Rezession kommt, an uns liegt es nicht. Der Hersteller hatte doppelt Arbeit, die Spedition fuhr doppelt und einmal sogar leer, die e-mailenden Mitarbeiter*innen hatten gut zu tun, auch die Telekom profitiert, es waren und sind vielerlei Emotionen im Spiel.
Ein Resümee, das ich mir nicht verkneifen will
In meiner Welt, die mit dem Rad, der Frisbee und dem Bier im Bärleinhuter würde der Hersteller einen Tisch produzieren, der auf Anhieb funktioniert. Nur zur Erinnerung: Es geht um eine Holzplatte, zwei Füße und vier Schrauben, das ist weder kompliziert noch komplex. Dummerweise würde in meiner Welt die Tischplatte nur einmal produziert werden, die Spedition würde nur einmal fahren und die Mitarbeiter*innen in der Rückabwicklung und Reklamation würden einer anderen Arbeit nachgehen, weil es diese Stellen gar nicht gäbe.
Diese Welt nenne ich Nachhaltig Wirtschaften und diese Welt ist völlig ideologiefrei. Diese Welt ist schlicht vernünftig, achtsam und umsichtig. Schon klar, das ist jetzt ein winziges Beispiel für den täglichen Leerlaufwahnsinn. Wir denken weltweit und in Deutschland über die Energiewende nach und über den Klimaschutz und wir schrauben uns mit Gift gefüllte Energiesparlampen in die Zimmerdecken und –wände – und das nicht zu knapp und wir kapieren nicht, dass eine Veränderung unseres Wirtschaftssystems hin zu Sorgfalt, Prozessoptimierung und Reparaturfreundlichkeit wahnsinnig viel Energie einsparen würde.
Zum Schluss träume ich: Alles, was wir der Leerlaufökonomie (die Wiederherstellung von allem was wir selbstverschuldet kaputt oder falsch gemacht haben) zurechnen können, wird ab sofort von unserem Bruttoinlandsprodukt abgezogen. Und dann schauen wir mal, wie reich wir wirklich sind.
Stefan Theßenvitz
Wiesentheid, 31. Januar 2021