Im Winter 2021 mitten in der zweiten Corona-Welle und in Erwartung einer dritten und vierten Welle und möglichen Virus-Mutationen aus Großbritannien, Südamerika und Südafrika verdichtet sich die Erkenntnis, dass unsere Welt nach Corona eine andere sein wird. Die Pandemie ist ein epochales Ereignis und sie hat das Zeug dazu, die Welt grundstürzend zu verändern. Klar, die einen wollen zurück ins alte Gleis, die anderen wollen alles neu gestalten, jedes Grüppchen kocht sein Süppchen und alle wollen das Beste für ihre Zukunft.
Doch so einfach ist das nicht mit der Zukunft. Zum einen sind wir alle gefangen in der normativen Kraft des Faktischen – alles was wir tun, verstärkt die Wahrscheinlichkeit auf dessen Wiederholung. Zum anderen zeichnet sich eine Bifurkation ab – die Umstände erzwingen eine qualitative Zustandsänderung in unserem System.
Unser System funktioniert wie jedes organische System nichtlinear. Über exponentielle Verläufe haben wir ja im letzten Jahr eine Menge gelernt: Aus 1 werden 10 werden 100 werden 1.000 und so weiter. Am Anfang ist die Veränderung kaum wahrnehmbar, doch dann geht es rasend schnell. Ein möglicher exponentieller Verlauf kann in ein völlig neues Gleichgewicht münden – es wird vorstellbar, dass unsere Welt im Jahr 2025 eine völlig andere sein wird.
Das Faszinierende an organischen Systemen ist ja, dass sie immer nach Balance streben und innerhalb der Balance nach Wachstum und Vielfalt. Wird das Wachstum durch externe Faktoren gestört, kann das System schlagartig kollabieren – aus diesem Chaos entsteht wieder etwas Neues.
Mit jedem Tag, in dem sich das Corona-Virus tiefer in unsere Welt hineinarbeitet, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass die Pandemie noch länger dauern wird – das Wettrennen zwischen Virus-Mutationen und geeigneten Impfstoffen ist noch nicht entschieden. Denn schlussendlich entscheidet sich das Wettrennen nicht mit dem Impfstoff, sondern mit dem zügigen und vollständigen Impfen der „Herde“.
Jetzt kommen wir Menschen ins Spiel und die Gestaltung unserer Zukunft. Eines sehen wir bereits klar. Unsere Welt wird digitaler werden und hier passiert schon viel in Deutschland. Doch darüber hinaus wird es schon neblig. Unsere Zukunft hängt entscheidend davon ab, ob wir unsere Welt gestalten wollen und wie wir sie gestalten wollen. Für die Gestaltung unserer Welt brauchen wir dreierlei:
- Zum ersten sind da unsere Fähigkeiten zum Gestalten – unser handwerklichen Fähigkeiten. In Stichworten: Aufgeben, Restaurieren, Verteidigen, Schützen, Gestalten, Verändern. Ja auch das Aufgeben ist eine handwerkliche Fähigkeit beziehungsweise die Negation der Fähigkeit, doch am Anfang liegt immer die Entscheidung, was ich unternehme. Das Aufgeben – das Nicht-Gestalten – ist auch eine Form der Gestaltung, denn es führt zum Gestaltet-Werden.
- Zum zweiten ist da unser Willen zum Gestalten – unsere mentale Verfassung. In Stichworten: Resigniert – Mutlos – Pessimistisch – Passiv – Ängstlich – Vorsichtig – Kontrolliert – Trotzig – Unruhig – Aggressiv – Mutig – Neugierig – Zuversichtlich – Optimistisch – Tatenfroh – Aktiv. Ja, ich kann auch mutlos gestalten, das wird dann halt nix, doch ich kann auch tatenfroh an die Gestaltung herangehen. Es ist meine Entscheidung.
- Und zum dritten ist da unsere Vorstellungskraft – unsere Fähigkeit zur Imagination. In Stichworten: Kopieren – Anpassen – Verbessern – Optimieren – Kombinieren – Transformieren – Erfinden. Verfügen wir über keine Vorstellungskraft, dann werden wir die Vergangenheit kopieren oder vielleicht ein bisschen optimieren, verfügen wir über die Kraft (die Gabe?, den Mut?) der Imagination, dann können wir die Welt neu erfinden.
Innerhalb des Koordinatensystems <Handwerkliche Fähigkeiten>, <Mentale Verfassung> und <Vorstellungskraft> findet die Zukunft statt, die wir gestalten. Für die Schaffung einer nachhaltig agierenden Gesellschaft benötigen wir – Sie ahnen es – herausragende handwerkliche Fähigkeiten, einen starken unbeugsamen Willen, der auch in schwierigen Phasen den Kurs hält und insbesondere benötigen wir eine Vorstellungskraft, die über das bereits Gedachte weit hinausgeht und den Mut hat, etwas völlig Neues zu denken.
Das Problem des Neu Denkens ist ja immer, dass man versucht ist, dieses Neue und seine Chancen und Risiken mit alten Werkzeugen und Methoden zu bearbeiten, zu messen und zu bewerten. Und die alten Methoden liefern natürlich alte Antworten: „Das Neue kann unter den Prämissen des Alten nicht funktionieren, also lassen wir es.“ Deshalb fragt man keine Frösche, wenn man einen Sumpf trockenlegen will.
Es gibt da in meiner Branche ein Bonmot: „Wenn ich etwas nicht will, dann lasse ich es rechnen.“ Der böse Satz bezieht sich auf Innovationen, auf Projekte, auf Neues. Der Satz bezieht sich auf alles, von dem der Vorstand, die Geschäftsführung oder die Investoren nicht überzeugt sind.
Wir könnten jetzt fragen, wer ist denn der Vorstand, die Geschäftsführung oder die Investorin unserer Welt? Wer kann das Neue denken? Wer kann das Neue rechnen? Nun ja, das sind Sie – ja Du, liebe Leserin und lieber Leser. Wer denn sonst bitte? Ich bin ja ein Freund der Selbstermächtigung und jetzt gebe ich Ihnen zwei Gedanken mit auf den Weg, ohne allzu biblisch zu werden.
„Im Anfang war das Wort“, so steht es am Anfang des Johannesevangeliums. Ich verstehe darunter, dass wir im Zuge der Schöpfung diese zuallererst denken und benennen können müssen. Dann können wir sie auch schaffen und gestalten.
In der Apostelgeschichte 3, 1 – 10 wird von Jesus berichtet, der zu einem Gelähmten sprach: „Steh auf und geh!“. Da stand der Gelähmte auf und ging. Verstehen Sie die Wucht seiner Worte? Jesus sagte nicht „Ich trage Dir den Arsch nach.“ Er sagte „Steh auf und geh!“.
So, und jetzt erzähle ich Ihnen von den sieben möglichen Post-Corona Gesellschaften. Als Erzählform wähle ich die Methode des Szenarios. Das Szenario entstammt der Commedia dell’arte – der Stehgreifkomödie – die Mitte des 16. Jahrhunderts in Norditalien erfunden wurde. Die Commedia dell’arte zeigte Frauen zum ersten Mal als gleichberechtigte, wenn nicht gar überlegene Figuren auf der Bühne, doch das nur am Rande. Ein Szenario beschrieb die Rahmenhandlung, alles andere war Improvisation.
Heute verwendet man Szenarien, um mögliche Zukünfte zu beschreiben. Szenarien geben uns eine Vorstellung davon, wie Zukünfte aussehen können. Ob und in welcher Ausprägung diese Zukünfte Wirklichkeit werden, hängt im Wesentlichen von unseren Fähigkeiten, unserer Verfassung und unserer Vorstellungskraft ab. Szenarien dienen uns dazu, Bedrohungen und Chancen zu erkennen. Szenarien dienen uns dazu, etwas Nicht zu wollen oder es mit ganzer Kraft zu wollen. Szenarien öffnen den Blick für das Mögliche und sie geben uns die Kraft, eine gute Zukunft gestalten zu wollen. Szenarien dienen uns dazu, auf der Grundlage von Tatsachen, Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten selbstbestimmt zu handeln. Es liegt an uns, welche Zukunft wir wollen!
Die folgenden sieben Szenarien sind eine extrem verkürzte, plakative Darstellung möglicher Zukünfte. Nichtsdestoweniger sind alle Szenarien präzise durchdacht. Sie gründen auf ausgiebigen Recherchen, Experteninterviews und Beobachtungen der aktuellen Zeitläufte. Alle Gedanken sind als Stichworte notiert, einfach weil ich will, dass diese Ihre Fantasie und Vorstellungskraft anzünden und Sie anregen, selbst weiter zu denken.
Der Zusammenbruch
Die atomisierte Clan-Gesellschaft
- Insolvenzwellen reißen die Wertschöpfungsketten auseinander
- Zusammenbruch des Mittelstandes
- Massive Verarmung breiter Bevölkerungsgruppen
- Das politische System kollabiert – Verweigerung des Vertrauens
- Das Finanzsystem kollabiert – Vertrauensverlust in den Euro
- Die öffentliche Versorgung bricht zusammen
- Clanstrukturen etablieren sich im Machtvakuum
Zur Hölle mit dem Wandel
Die restaurierte Endzeit-Gesellschaft
- Kampf um die Wiederherstellung des Prä-Corona-Wohlstandes
- Investitionen in höhere Produktivität – ökonomisch gestützter digitaler Wandel
- Ankurbelung des privaten Verbrauchs – steuerliche Anreize für E-PKW und Hausbau
- Konzentration der öffentlichen Mittel auf Stützung und Stärkung der Wirtschaft
- Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger*innen – Gesundheit, Bildung, Vorsorge
- Rückzug des Staates auf Kernleistungen – massive Einsparungen im Sozial- und Kulturbereich
- Restauration der Werte – Rückkehr der alten Welt-Ordnung (Familie, Leistung, Patriachat)
Für immer Krise
Die hypernervöse Misstrauens-Gesellschaft
- Jede/r und alles ist potenziell gefährlich
- Verengung des Toleranzkorridors – jede Abweichung kann eskalieren
- Alles kann jederzeit außer Kontrolle geraten – der Fluch der Exponentialfunktion
- Aggressive Durchsetzung von Sofortmaßnahmen – die Dominanz der Kurzfristigkeit
- Die neue Klugheit des Misstrauens: Vertrauen, langfristiges Denken, Partnerschaften sind dumm
- Alles wird immer hinterfragt – Demokratie, Wirtschaftssysteme, Normen, Spielregeln
- Alles muss bewiesen werden – was nicht bewiesen werden kann, ist gelogen
Primat der Sicherheit
Die Sicherheit-über-alles Gesellschaft
- Nationen im Aufwind – Grenzen, Pässe, Visa
- Staatlich kontrollierte Gesundheit
- Die neue Unverletzlichkeit – Volksgesundheit vs. Selbstbestimmung
- Menschen und Waren kontrollieren, verfolgen, isolieren, aussortieren
- Städte sind risikoreiche Orte der Verrichtung von Arbeit – Landluft macht frei
- Keimfreie Produkte, Begegnungen und Gedanken
- Die alternativlose Autorität der Wissenschaft
Kuscheln im Privaten
Die abgeschottete Kirchturm-Gesellschaft
- Wir von hier – das Vertrauen konzentriert sich auf die eigenen kleinen Kreise
- Selbst ist das Dorf –Versorgung, Vorsorge, Verbundenheit, Veranstaltungen
- Digitale Anbindung an die Welt da draußen – Arbeit, Gesundheit, Bildung
- Analoge Anbindung an die Welt hier drinnen – mitmachen, mitgestalten, mithelfen
- Das Private wird wieder politisch – Finger weg von unserem Dorf, wir haben unsere Regeln
- Die neue Nahraumerfahrung – verlässlich, vertrauensvoll, übersichtlich
- 30 Kilometer weiter haben wir nichts verloren – und die anderen bei uns auch nichts
Die neue Vereinbarung
Die Veränderungs-Gesellschaft
- Die neue Lernfähigkeit – bewährtes Gutes und hoffnungsfroh Neues werden kombiniert
- Neue Spielregeln für Arbeit, Konsum, Miteinander – Alles wird glokal
- Die neue Klugheit – Verzicht auf vieles, nur weil wir es können (Tourismus, Mobilität, Konsum)
- Die neue Widerstandsfähigkeit gegen Entwicklungen, die uns geschadet haben (Neoliberalismus)
- Die neue Entdeckerfreude – wir betreten neugierig ökonomisch, ökologisch und sozial Neuland
- Die neue Gemeinsamkeit – lebendige Solidarität und Gemeinschaft sind wertvoll
- Die neue Verbundenheit mit der Nachbarschaft und der ganzen Welt
Renaissance 2.025
Die Wiedergeburts-Gesellschaft
- Die gemeinwohlorientierte Politik und sozial-ökologische Ökonomie dienen der Wohlfahrt aller
- Der Natur wird eine subjektive Rechtsposition zuerkannt – die Menschenrechte sind Teil dieser
- Kultur und Teilhabe sind die tragenden Säulen der Gesellschaft
- Das menschliche Maß wird zum Primat des Handelns – der Abschied von der Gigantomanie
- Innovationen in allen Feldern der Wissenschaft dienen der Verbesserung der Lebensverhältnisse
- Schönheit ist das allem Schaffen innewohnende universelle Gestaltungsprinzip
- Die Welt ist ein guter Ort für alle – für Mensch, Tier und Natur
Wenn ich jetzt einen Wunsch frei hätte, dann den, dass wir an diesem Punkt gemeinsam weiterdenken und weiterarbeiten. Ich meine das ernst! Schreiben Sie mir.
Ihr
Stefan Theßenvitz
Wiesentheid, 31. Januar 2021