Menschen wollen die Welt (und sich) als in sich schlüssig, als konsistent begreifen. Aus diesem Reflektionsmuster resultiert unser vierfaches Missverstehen in Bezug auf die Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf unsere Gegenwart.
- Wir leben in der Illusion, gegenwärtige Ereignisse zu verstehen.
- Wir verzerren retrospektiv historische Ereignisse.
- Wir überbewerten Sachinformationen.
- Wir überbewerten die intellektuelle Elite.
Soweit die Gedanken von Nassim Nicholas Taleb. Und weiter: wir schaffen nachträgliche Erzählungen, um Ereignissen einen plausiblen Grund zu verleihen. Taleb nennt das die narrative Verzerrung. Diese Verzerrung ist gefährlich, denn dadurch entstehen falsche Entscheidungs- und Handlungsmuster.
Unternehmerische Entscheidungen auf Grundlage von narrativen Verzerrungen erinnern an Beschwörungsformeln von Hohepriestern, die ein umfassendes Wissen über Zusammenhänge suggerieren, deren Tiefe und Bedeutung dem Fußvolk in klaren Worten zu vermitteln nicht möglich und deshalb Zeitverschwendung ist. Denn dem Fußvolk mangelt es an Erkenntnisfähigkeit.
Das Fußvolk – die Mitarbeiter – werden mit Parolen abgespeist, an denen sich ihre Schaffensfreude aufrichten soll, im festen Vertrauen auf die Weisheit der Führungskräfte. Diese umgeben sich mit den Insignien der Wissenden, um allzeit ihre herausgehobene Stellung sichtbar zu dokumentieren und Unnahbarkeit zu demonstrieren: Limousinen mit Fahrer, riesige Büros, eine Vielzahl an Assistenten, ein knallvoller Terminkalender, abgeschottete Meetings mit anderen Wissenden, Verkündigungen mit aus rätselhaften Wörtern vollgestopften Sätzen aus einer fremden Sprache (z.B. Denglish) – oder banalste Dreiwortsätze so flach wie Gehsteigpfützen, deren unermessliche Tiefe sich hinter der augenscheinlichen Flachheit nur dem sich darin spiegelnden Sprechenden erschließt.
Ohne eine saubere, sachbezogene und umfassende Analyse muss das Ergebnis jeder Entscheidung und Handlung zufällig sein.
Eine kleine Geschichte: im Gespräch mit dem Geschäftsführer einer großen Umweltschutzeinrichtung mit Tagungs- und Übernachtungsbetrieb berichtete dieser begeistert von den stark steigenden Buchungszahlen seit einigen Monaten, die seit der Gründung des Betriebs ohne Beispiel sei. Seine Erklärung: man hat im zurückliegenden Jahr ein die ganze Region umspannendes Projekt zur Anpflanzung von Heckenrosen durchgeführt, als Landschafts-Schutzmaßnahme und als Aufwertung der touristischen Kulisse. Seine Schlussfolgerung: man müsse also in diesem Jahr wieder ein Projekt dieser Art durchführen, dann würden die Buchungszahlen weiter steigen.
Auf Nachfrage und genauerer Betrachtung ergab sich folgendes Bild: die Umweltschutzeinrichtung bereitete das Heckenrosenprojekt über ein Jahr lang vor, warb in der Region um Verständnis und Mitwirkung, versorgte die Presse mit Informationen, informierte die Bewohner mit Flugblättern, hielt Veranstaltungen in Wirtshäusern und Gemeindezentren ab, gewann viele Ehrenamtliche für die Arbeit und erklärte im Pflanzzeitraum jedem interessierten Anwohner und Touristen sozusagen am Feldrand den Sinn und Zweck der Übung.
Unsere Schlussfolgerung: durch diese Maßnahme wurde die Umweltschutzeinrichtung nach vielen Jahren endlich in der Region bekannt. Vorher kannte kaum jemand die hinter vielen Hügeln versteckte und nur schwer erreichbare Umweltschutzeinrichtung, die bis dato ihr karges Fördermittel-Brot im Kreis der beherzten Vereinsmitglieder in der ansonsten leeren Hütte mümmelte. Die Umweltschutzeinrichtung hat schlicht die Werkzeuge der Öffentlichkeitsarbeit und des Vertriebs bedient, sie hat sich gerührt. Und wir wissen: wenn man sich rührt, dann rührt sich was.
Gefährlich ist auch das abstrakte Denken, mit dem man Wirklichkeit simuliert. Folgende Frage ist sehr beliebt in Arbeitskreisen jeder Art: „Welche Konsequenzen hätte es gehabt, wenn wir dies und jenes getan hätten?“. Wer die Konsequenzen von Ereignissen abwägt, die nicht eingetreten sind, landet in paradoxen Bewertungen und damit im Realitätsverlust. Dieses Denken ergibt keinen Sinn.
Die vier Facetten der Wirklichkeit und ihre Folgen (nach Ibn Yamin,* 1286 in Faryumad bei Sebzevar, † 1368), persischtadschikischer Poet):
- Es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Sein Pferd der Weisheit wird den Himmel erreichen.
- Es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Er schläft schnell ein, so dass man ihn aufwecken muss.
- Es gibt Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen. Sein lahmendes Maultier wird ihn schließlich nach Hause bringen.
- Es gibt Dinge, die wir nicht wissen wollen. Er wird auf ewig in seiner Vergessenheit verloren sein.
Gerade der vierte Punkt – es gibt Dinge, die wir nicht wissen wollen – ist außerordentlich gefährlich für Unternehmen. Auf dem Weg zum Wissen durch Analyse und Erkenntnis gibt es keine seriöse Abkürzung. Jede Abkürzung ist Scharlatanerie und Betrug an den Kunden, die dem Unternehmen vertrauen und an den Mitarbeitern, die von ihm abhängig sind.
Mein Appell an Sie: arbeiten Sie an Ihrer Wahrnehmung, behalten Sie die Kontrolle über die Realität und bleiben Sie tatkräftig! Denn diese beiden Punkte stehen fest:
- Auf lange Sicht bereut man vor allem Dinge, die man in der Vergangenheit nicht getan hat und deren Ausgang man folglich nicht kennt.
- Im Nachhinein und auf kurze Dauer bereut man besonders solche Dinge, die man in der Vergangenheit getan hat, die aber ungünstig ausgegangen sind.
Herzlich willkommen im Club der klaren Denker und kraftvollen Macher,
Ihr Stefan Theßenvitz