Schlagwort: Leistungsgesellschaft

Geld macht gierig und dumm

Eine gemeinsam getragene Idee von Zukunft mit Strahlkraft findet sich nicht im Deutschland des Jahres 2023. Niemand formuliert die große Idee, sie existiert nicht. Nehmen wir die menschliche Hand. Auf Lateinisch heißt die Hand Manus. Aus Manus leitet sich das Management ab, das organisierte Handeln, mit dem wir Menschen die Dinge entwickeln, regeln und ordnen, kurz: das Machen.

Und was machen wir? Die einen kleben ihre linken Hände auf dem Asphalt fest, am rechten Rand zuckt die dort hängende Hand immer selbstbewusster zackig auf Augenhöhe und alle, wirklich alle halten sie auf, die Hände – für Subventionen, Zuschüsse und Fördermittel, für Kinder, Ausbildung, Wohnen und Energie, für so gut wie jeden Lebensbereich und Lebensumstand findet sich ein staatlicher Topf. Mehr als jeder dritte erwirtschaftete Euro in Deutschland fließt mittlerweile in das Sozialbudget. Je nach Berechnungsgrundlage sind zwischen acht und zwölf Prozent der in Deutschland lebenden Menschen auf dessen existenzsichernde finanzielle Hilfe angewiesen. Gleichzeitig wachsen die Ansprüche an staatliche Transferleistungen immer mehr an.

Jede noch so kleine gesellschaftliche Gruppe formuliert immer ausgefeiltere Forderungen mit dem Hinweis auf eine und wenn auch noch so geringe Benachteiligung gegenüber einer anderen Gruppe. Das Verrückte an der sich nach oben schraubenden Transferleistungsspirale ist: im Ringen um möglichst viel Gerechtigkeit verschwindet diese zusehends. Gerechtigkeit wird zunehmend als Verteilungsgerechtigkeit und insbesondere als unterlassene Hilfe verstanden, auf die man einen gerechtfertigten Anspruch hat. Das ist ein Irrtum. Neben diesem wachsenden Anteil der Transferleistungsempfänger wachsen auch die nicht staatlichen Unterstützungen an, allein die Zahl der Tafeln ist seit ihrer Gründung mit der ersten Tafel 1993 in Berlin auf knapp 1.000 in Deutschland angestiegen.

Die Menschen mit Geld zu sedieren und sie dem System gewogen zu machen, scheint nicht besonders gut zu funktionieren. Eine qualifizierte Minderheit hat sich komplett aus der demokratischen Mitwirkungspflicht verabschiedet. Spöttisch könnte man sagen, die Nichtwähler bilden die größte Gruppe in unserer Demokratie. Die Chancen, es aus eigener Kraft nach oben – was auch immer das für den Einzelnen sein mag – zu schaffen, werden flächendeckend seit Jahrzehnten als immer geringer werdend empfunden. Die bittere Wahrheit ist, am Ende sind in vielen Fällen eben doch das Elternhaus, das Erbe und die richtigen Kreise die entscheidenden Faktoren, um es nach oben zu schaffen. Die richtigen Beziehungen sind wichtiger als Fleiß und Talent.

Diese gesellschaftlichen fatalen Entwicklungen fußen auf der Ökonomie des ungezähmten Feuers. Das große Versprechen des Neoliberalismus und seiner propagierten kompromisslosen Leistungsgesellschaft, in der jeder alles aus eigener Kraft erreichen kann, hat sich für die meisten Menschen nicht erfüllt.

Die Öffnung der Märkte, das Zurückdrängen des Staates, die Privatisierung von Volkseigentum und die Flexibilisierung der Lebensentwürfe erzeugen immense Folgekosten, die den Staat in die Rolle eines dauerhaft überforderten Rettungssanitäters zwingt, der allein einer Massenkarambolage auf der Autobahn gegenübersteht.

Der Neoliberalismus zerstört nicht nur unsere offene Gesellschaft und seine sozialen Grundlagen, er zerstört auch mit Besorgnis erregender Geschwindigkeit die ökologischen Lebensgrundlagen für die Spezies Mensch.

Auszug aus dem Buch: Nachhaltigkeit in Gesellschaft und Politik | Perspektiven, Spielregeln und Lösungen für eine lebenswerte Zukunft der Spezies Mensch im schönsten Land der Welt – in Deutschland, Stefan Theßenvitz, 248 Seiten, 38 Euro. Im Webshop erhältlich: https://shop.thessenvitz.de/produkt/nachhaltigkeit-in-gesellschaft-und-politik/

© Abbildung erzeugt mit Hilfe von OpenAI, 2024, Stefan Theßenvitz

Die bürgerliche Mitte im 21ten Jahrhundert | Verweiblichung, Rückzug und Aufbruch

Die moderne bürgerliche Mitte erscheint auf den ersten Blick als wenig greifbar. Hinter den groben soziodemographischen Kriterien (ca. 30 bis 50 Jahre, verheiratet, Kinder, lebenspraktische Berufe) öffnet sich ein unendlicher Kosmos an Erwartungen an das Leben, Einstellungen, Vorlieben, Wünschen und Träumen. Die wichtigsten Strömungen im Überblick:

Die Verweiblichung der Welt

Rollenmodelle in Partnerschaft und Beruf fordern von den Männern mehr Weiblichkeit (Empathie, Intuition, Gefühl) und mehr Engagement in der Familie (Kindererziehung, Kochen, toben und spielen). Gleichzeitig bleiben die Männer vorwiegend in der Rolle des Ernährers und die Frauen weitgehend in der Rolle der Hüterin des Feuers.

Weibliche Aspekte in der Wahrnehmung der Welt gewinnen an Relevanz und Akzeptanz. Gefühle sind Argumente. Harmonie und Gleichklang in der Partnerschaft sowie der Zugang zu sich selber stellen sehr hohe Anforderungen an den Mann, der diese Form der Daseinsbewältigung nicht auf den Genen hat.

An der Idealvorstellung des Mannes als Kunsthandwerker aus Südtirol, der mit seiner natürlich unperfekten aber sehr liebenswerten Frau voller Macken und Marotten (und ein paar Falten) ein wahnsinnig erotisches Leben im sensationell geschmackvoll selbst ausgebauten Fischerhaus in Ostfriesland mit Humor, Gelassenheit und Rücksichtnahme führt, scheitern viele Frauen. Das Einzige was sie tröstet ist, dass ihr im Vergleich zu diesem Idealbild außerordentlich unattraktiver Mann von keiner anderen Frau umworben wird – er gehört ihr.

Der Rückzug des klassischen Mannes

Der klassische Mann (viel Fleisch, viel Bier, wenige Worte, Fußball, Computer und Auto) schottet sich mit seinen zunehmend als skurril empfunden Vorlieben und Eigenschaften ab – zumindest temporär – und lebt dort noch unbehelligt seine archaischen Triebe aus (Dominanz, Härte, Sieg, Kameradschaft). Außerhalb der Trutzburgen Fußball und Auto gibt der Mann alles, um entlang der Verweiblichung der Welt seine Attraktivität und gesellschaftliche Stellung zu sichern, notfalls durch Anpassung.

Der Aufbruch des Neuen Menschen

Am Horizont erscheint der neue Mensch: die ethisch Schönen. Sie handeln nachhaltig (verantwortungsbewusster Konsum), haben ein starkes Selbstbewusstsein und Sendungsbewusstsein, verstehen sich als weltweite Elite und als natürliche Anführer, um die Erde zu retten (und zumindest die Menschen, die ihnen folgen).

Die Klammer dieser Haltung ist der vegane Lebensstil: er umfasst alle Aspekte, die im Rahmen der gesellschaftlichen Vereinbarungen neu ausgehandelt werden: nachhaltig leben, Geschlecht als soziale Konstruktion, Menschen und Tiere haben gleiche Rechte (Unverletzlichkeit als universales Prinzip), Share-Economy (Subsistenz, Weniger und Teilen).

Die Wurzeln dieser Entwicklung finden wir im Aufbruch der 68er, der Friedensbewegung, dem Feminismus, dem Umweltschutz, der Eine-Welt-Aktionen, dem fairen Handel, dem Ökobewusstsein, der Spiritualität (New Age) und dem Bambi-Syndrom (Natur schützen vs. schuldhaftes Eindringen in diese).

Vegan ist die Klammer, die alles umfasst. Vegan ist eine gute Lösung: ich kann mich wieder als gerechtfertigter Teil der Schöpfung empfinden und das Leben genießen. Dazu gehört auch das Nudging als Prinzip der Steuerung von Gesellschaften: da wo Demokratie, Gewaltenteilung und Aufklärung nicht zu „richtigen“ Handlungen werden (z.B. Nachhaltigkeit), da ist die Manipulation der „dummen“ Masse“ in Ordnung. Denn die Elite weiß es besser.

Survival of the fittest

Die Leistungsgesellschaft ist selbstverständlich. Männer und Frauen performen im Beruf (Job), als Eltern, als Liebhaber, als Freund/-in. Männer und Frauen sind attraktiv, sensibel, achtsam (vor allem sich selbst gegenüber), durchsetzungsstark und selbstbewusst. Sie bringen sich ein und können sich gut abgrenzen. Und scheitern selbstverständlich an diesen monumentalen Ansprüchen. Denn der unermüdliche Anspruch an die Optimierung im unendlichen Kosmos der Wahlmöglichkeiten lastet auf dem rat- und rastlosen Individuum auf der ständigen Suche nach Perfektion.

Was braucht die moderne bürgerliche Mitte?

Die Menschen brauchen Halt und Sicherheit ebenso wie die Zuversicht, den eigenen Lebensentwurf gelingend zu gestalten. Hinter all dem medialen Trommelfeuer von der Auflösung der Welt, der Werte und der gelernten Ordnung (sexuelle Vielfalt als Schulfach) leben in überwältigender Mehrheit ganz normale Menschen: Frauen sind Frauen, Männer sind Männer und drei von vier Kindern wachsen in einer „ganz normalen“ Familie (Ehepaare mit Kindern) auf.

Die moderne bürgerliche Mitte sehnt sich nach Selbstvergewisserung: Selbstverwirklichung in Kombination mit Anpassung und der Gewissheit, nichts falsch zu machen. Unverrückbar ist geblieben: das Streben nach Harmonie, nach Ausgleich und einem friedlichen Leben, nach einem schönen Zuhause, einem sicheren Arbeitsplatz und glücklichen Kindern. Unverrückbar geblieben sind ebenfalls die Sehnsucht der Frau nach Weiblichkeit und die Sehnsucht der Männer nach Männlichkeit.

Diese – medial zunehmend belächelte – Lebensform findet in der Provinz statt, in Kleinstädten und auf dem Land. Also dort, wo die meisten Deutschen leben trotz des Trends der Reurbanisierung.