Ohne Hilfe entkommt man der Armut nicht

Der Paritätische Armutsbericht  mit Stand März 2023 verzeichnet knapp 17 Prozent Arme in Deutschland. Das ist die höchste gemessene Armutsquote seit ihrer statistischen Erfassung. Über 14 Millionen arme Menschen verteilen sich mit gut 32 Prozent auf Haushalte mit drei und mehr Kindern, auf Alleinerziehende mit gut 42 Prozent, auf Arbeitslose und auf gering qualifizierte Menschen. Menschen mit Migrationshintergrund sind mit knapp 29 Prozent vertreten, Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit mit knapp 36 Prozent.

Die Armut unter Kindern und Jugendliche ist über 21 Prozent auf Rekordniveau, ebenso wie die Quote älterer Menschen mit knapp 18 Prozent und Rentner mit gut 18 Prozent. Als arm gilt nach EU-Definition , wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zum Leben hat. Armut ist also von Land zu Land verschieden, sie ist relativ, doch Armut bedeutet immer soziale Randständigkeit und Ausgrenzung.

Ich komme aus einem typischen Nachkriegshaushalt. Meine Mutter ist gelernte Buchhändlerin, mein Vater Werbekaufmann. Meine Eltern trennten sich in meiner Kindheit, meine Mutter übernahm die Erziehung und die Finanzierung, mein Vater übernahm eher nichts. Meine Lebensbahn wurde ab dem 17ten Lebensjahr etwas schiefer, was ich damals ziemlich cool und frei im Sinne von Jim Morrison und Janis Joplin fand.

Mit 20 Jahren dämmerte mir, so wird das nichts mit meinem Leben und dem Club der 27 wollte ich nicht beitreten.

Meine Schullaufbahn endete in der elften Klasse abrupt mit einem Ministerialverweis, eine Ausbildung hatte ich auch nicht und aus dem Dasein eines Türstehers wollte ich dringend raus. Als Lösung aus dem Dilemma ersann ich mir den Weg zum Fachabitur, denn – was ich damals mit großer Freude realisierte – mit Abschluss der zehnten Klasse Gymnasium hatte ich automatisch die Mittlere Reife in der Tasche.

Meine finanzielle Situation war eher prekär und zwei Jahre auf der FOS mit dem Nachlernen von vier Jahren Unterrichtsstoff der Realschule mit kaufmännisch Rechnen und Buchhaltung erlaubten keine intensive Nebentätigkeit. Das Angebot aus der Szene, mit Drogen zu dealen, lehnte ich ab und so versuchte ich es beim Sozialamt.

Dort lauschte man meinem Anliegen, die Fachoberschulreife ablegen zu wollen als Voraussetzung für ein Hochschulstudium und damit einer Berufsqualifikation, mit der ich mir vorstellen konnte, etwas anzufangen. Nun ja, ich sei bereits volljährig und mit Erhalt der Sozialhilfe wäre ich verpflichtet, etwas für die Gemeinschaft zu leisten. Also Straßenbahngleise reinigen, Schnee schippen, Sportplätze in Schuss halten, Friedhofspflege und Hilfsdienste für das städtische Bauamt – was eben so in einer Stadt als einfache Arbeit anfällt. Dafür gäbe es eine Liste mit den Arbeitsfähigen und das Sozialamt würde sich bei Bedarf melden.

Beide Seiten wussten, wenn ich den Arbeitsdienst verrichten würde, dann wird das nichts mit der Schule und dann bot man mir an, mich nicht auf die Liste der Arbeitsfähigen zu setzen und ich würde jeweils halbjährlich meine Zeugnisse vorlegen. Deal. Auskömmlich mit Sozialhilfe ausgestattet zog ich die Schule durch, in der zwölften Klasse mit Begabtenförderung, die vollumfänglich mit der Sozialhilfe verrechnet wurde. Daran anschließend begann ich das Studium der Betriebswirtschaft.

Als Student erhielt ich BAföG als zinslosen Kredit, den ich ab dem Berufseintritt über mehrere Jahre in Raten vollständig abzahlte. Die Semesterferien arbeitete ich immer durch, so hatte ich genügend Geld für meine kleinen Extras – Schallplatten von Pat Metheny und ab und an Walnussbrot und Rohmilchkäse – und nach und nach wurde mir bewusst: Ohne Hilfe entkommt man der Armut nicht.

Auszug aus dem Buch: Nachhaltigkeit in Gesellschaft und Politik | Perspektiven, Spielregeln und Lösungen für eine lebenswerte Zukunft der Spezies Mensch im schönsten Land der Welt – in Deutschland, Stefan Theßenvitz, 248 Seiten, 38 Euro. Im Webshop erhältlich: https://shop.thessenvitz.de/produkt/nachhaltigkeit-in-gesellschaft-und-politik/

© Abbildung erzeugt mit Hilfe von OpenAI, 2024, Stefan Theßenvitz