Nicht wirklich im Licht der Öffentlichkeit arbeitet die Bundesregierung unter Angela Merkel seit 2015 mit dem Konzept des liberalen Paternalismus. Über das Nudging und dessen „weißer Seite der Magie“ schrieb ich bereits – mehr dazu lesen Sie hier: https://www.thessenvitz-unternehmensberatung.de/nudging-und-weise-interventionen-methoden-wirksamer-kommunikation/.
Ein paar Beispiele zum Nudging
- Sie fahren mit Ihrem Auto auf eine geschlossene Ortschaft zu und sie sehen auf einer Tafel ihre aktuelle Geschwindigkeit. Liegen sie über der erlaubten Geschwindigkeit, dann blinkt es rot oder ein schlechtgelauntes Smiley erscheint, liegen sie mit Ihrer Geschwindigkeit drauf oder drunter der erlaubten Geschwindigkeit, dann blinkt es grün oder das Smiley lächelt.
- Bei einem Übernachtbesuch bei Freunden stieg ich morgens auf die Waage im Bad der Gastgeber. Statt meines Gewichts in Ziffern erschien auf der Waage der Text „Zu fett!“. Ja, sagte die Gastgeberin, sie hätte die Waage so eingestellt, das würde sie motivieren.
- In vielen Kantinen finden Sie mittlerweile die Süßspeisen in der zweiten und dritten Reihe hinter dem Joghurt und dem Obst. Es ist ein wenig anstrengender und unbequemer geworden, an Süßes zu kommen. Der Absatz von Süßspeisen in diesen Kantinen geht signifikant zurück.
- Ein Mehrgeschosser-Neubau in Frankfurt verfügt über vergleichende Mess-Systeme des Energieverbrauchs. Ich kann in meiner Wohnung jederzeit meine Energieperformance mit anderen Wohnungen vergleichen und erfahre schnell mein Ranking und ob ich die Umweltsau oder der Umweltprimus im Haus bin.
- Naja, der Veggie-Day der Grünen entspross auch dem Nudging, das ging wie bekannt gründlich daneben. Wobei die Botschaft echt gut gemeint war. Esst mehr Obst und Gemüse.
Nudging macht die Welt besser
Wir halten fest: Nudging entlastet das Denken und begünstigt gute Entscheidungen: Kontrolle des Körpergewichts, mehr Bewegung (Fitness-Apps sind Nudging-Werkzeuge), Ernährungsverhalten, Steuerehrlichkeit (gute Formulare führen zu mehr Steuerehrlichkeit), Fahrverhalten (Tempolimits), Wahl der Transportmittel (CO2-Emissionen), Energie- und Wasserverbrauch, Altersvorsorge und Finanzen. Soweit zur weißen Seite der Magie des Nudging und diese Seite ist auch ganz toll, denn sie macht die Welt besser.
FakeNews brennen zweimal
Blicken wir auf die andere Seite des Nudging, auf dessen schwarze Seite. Hier erleben wir seit vielen Jahren die Zunahme von FakeNews: aus parawissenschaftlichen Erkenntnissen, präzise verstümmelten Ausschnitten aus Studien oder gleich gefakten Studien, irgendwelchen Autoritäten (gerne im Businessanzug oder im Arztkittel, auch Ökoschlabberlock und unkonventionelle Haartracht erzeugt milieuspezifische Vertrauensvorschüsse!) und deren überhöhter Inszenierung in sozialen Medien wird ein scharfes Verschwörungsgulasch angerührt – reichlich gewürzt mit Halbwahrheiten aus der Tagespolitik. Wir wissen ja, ein gutes Gulasch brennt zweimal, beim Reinschlürfen und beim Ausscheiden.
Nudging macht die Welt schlechter
Die dort angerichtete Bedrohung führt zu urweltlichen Reflexen: wir bekommen es mit der ANGST zu tun. Und wer Angst hat, ist leicht manipulierbar. Wer Angst hat, sehnt sich nach Rettung. Satan sei Dank ist diese in FakeNews immer sofort zur Stelle. In Dreiwort-Sätzen, in Schuldzuweisungen, in Allmachtsphantasien und all dem Endzeit Bling-Bling – natürlich immer mit der Lichtgestalt, die uns ihre gütige Hand reicht. Soweit zur schwarzen Seite der Magie des Nudging und diese Seite ist ganz furchtbar, denn sie macht die Welt schlechter.
Schuld und Strafe
Blicken wir auf – richtig geraten – Corona und die Strategie unserer Bundesregierung zur Bewältigung dieser (so sorry, da ist ja gar keine) – also gut, blicken wir auf die Kommunikation unserer Bundesregierung in der Corona-Pandemie. Mich wundert schon seit Monaten der grobe Ton, der mir als Bürger regierungsseitig entgegenschlägt und die Hochrechnungen und die plastischen Darstellungen des bevorstehenden Massensterbens und dass ich Schuld bin, ja ich und deshalb muss ich um 9 ins Bett und wie furchtbar alles immer weiter eskaliert und es gibt nur eine Rettung: verkriech Dich zu Hause, lass niemanden rein und geh´ nicht raus.
Ihr wollt, dass ich Angst habe
Mir machen diese Nachrichten ANGST, ehrlich. Und so wie es aussieht, ist das Teil der Kommunikations-Strategie der Bundesregierung. Die Bundesregierung will, dass ich Angst habe und sie macht ihre Arbeit gut. Denn die Angst, das Misstrauen, die Unsicherheit sind mitten unter uns und beherrschen den Diskurs. Gehört wird eigentlich nur noch, wer noch mehr Angst verbreitet. Ich nenne das jetzt mal das SKK-Syndrom – SeehoferKerberKölbl. Es ist Teil unserer Alltagswirklichkeit. Ich will hier echt keine Sau durchs Dorf treiben und ich unterstelle wirklich jedem Menschen erstmal gute Absichten, doch das Ergebnis der Kommunikationsarbeit ist schon gruselig. Dazu meine Oma: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“ Das sagte sie gerne, wenn ich den Vorsatz anstelle der Tat zur Geltung bringen wollte. Den Satz entlieh sie augenzwinkernd George Bernard Shaw.
Jetzt nehmen wir den Vorsatz beim Schopf. Das regierungsseitige Story-Telling mit den erstickenden Menschen vor verschlossenen Krankenhaustüren und den traumatisierten Kindern, deren Oma sterben musste, weil sie sich nicht die Hände gewaschen haben, ist Teil einer bewussten Beeinflussung meiner Seele, um einen Worst-Case zu verdeutlichen. Dafür brauche ich kein Corona, dass mir hier der Atem stockt. Dieses Story-Telling rührt bewusst an unsere Urängste: Ersticken und nicht zu heilende Schuld. Das ist das Tor zur Hölle. Das ist die schwarze Seite des Nudging. Ich werde manipuliert, damit ich Angst bekomme damit ich tue, was man mir sagt. Kann sich unsere Bundesregierung nicht vorstellen, die Bürger vernünftig und sachlich zu informieren? Traut man uns Bürgern keine aufgeklärte Haltung zur Realität zu? Ich habe einmal gelernt, dass Kommunikation mehr über den Sender als über den Empfänger offenbart.
Die Neutronenbombe ist gezündet
Über das emotionale Erschrecken hinaus erkenne ich, dass sich unsere Bundesregierung der gleichen Methoden bedient wie die FakeNews-Branche: Überwältigung, Erregung, Schock, Angst und Misstrauen als Kommunikations-Strategie. Verstehen sie, was sie damit anrichten? Den kompletten Vertrauensverlust, die Hinwendung zu Bewegungen mit den einfachen Antworten, die Verunmöglichung des differenzierten Diskurses, die Ausgrenzung jedes Menschen, der minimal anders tickt. Ich sage es jetzt doch: ich vergleiche die Corona-Pandemie mittlerweile mit einem Krieg. Corona ist wie eine Neutronenbombe, die in der Atmosphäre gezündet wird. Die Häuser bleiben stehen, doch das Leben stirbt leise, jeder verstrahlt in seinem Loch. Hiram Johnson, US-amerikanischer Politiker brachte es auf den Punkt: „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.“
Die Wahrheit kämpft mit den falschen Waffen
Wenn die Wahrheit stirbt oder einfach der Mut zur Wahrheit, wenn der Gedanke der Aufklärung stirbt und der oft auch lästige aber bitter notwendige Diskurs (auch mit Deppen), wenn die Sache hinter der Ideologie verschwindet, dann ist schnell Schluss mit Demokratie. Wenn man sich der Methoden der Feinde unserer Demokratie bedient, um diese Feinde zu besiegen, dann ist das ein Fehler. Den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen ist so ziemlich der größte Blödsinn, den man glauben kann und ein echter Brüller auf jeder guten Militärakademie. Denn der Feind ist nur dann zu schlagen, wenn wir ihn in eine Schlachtordnung und Waffenwahl zwingen, in der wir überlegen sind (das gilt übrigens auch für Fußballspiele). Woran bitte soll man denn die Wahrheit erkennen, wenn sie sich im schmierigen Gewand des verschlagenen Angstmachers von hinten anschleicht und ihren stinkigen Atem in unsere Ohren haucht?
Der Ton macht die Musik
Ich lege Ihnen die Tagesschau vom 9. Dezember 1980 ans Herz, die gibt es bei Youtube in voller Länge zu sehen https://www.youtube.com/watch?v=FuVFArDaocU. An diesem Tag wurde John Lennon ermordet. Das war eine schreckliche Nachricht, nicht nur für Beatles-Fans. Der Bericht darüber wurde in der Tagesschau als letzte vor dem Wetterbericht gesendet. Das wäre heute bestimmt anders. Der Tod John Lennons wäre der Aufmacher, doch mir geht es um was anderes: mir geht es um den TON in der Tageschau, dieses trocken spröde Sachliche, Unbeteiligte. Heute unvorstellbar, da gäbs mordsmäßig Pipi in den Augen der Moderatorinnen und Moderatoren zu sehen – in groß und Slow-Tränen-Kullering in Farbe. Diesen sachlich überlegten, distanzierten und gerne auch kühl-unbeteiligten Ton brauchen wir wieder, und zwar dringend. Es geht darum, die Wahrheit und die Tatsachen anständig zu kleiden. Es geht um unsere Vertrauenskultur!
Corona ist mittlerweile ein politisch-gesellschaftliches Phänomen. Es liegt an uns, in welcher Welt wir nach Corona aufwachen wollen. In Erwartung sachlicher Informationen und Handlungsempfehlungen mit Augenmaß verbleibe ich für diesmal etwas aufgewühlt, Ihr
Stefan Theßenvitz
Wiesentheid, 24. Februar 2021